Entw / Mac McLaw

Kapitel 5 – Christine


Das Beste dabei war, daß wir zuerst ihre Schwester und deren Freundin kennengelernt hatten. Ich erinnere mich noch genau: wir waren nun schon eine ganze Woche in dem Ort, und nichts war los, aber rein gar nichts. Auf der Piste sah man zwar ab und zu einige ganz süße Häschen, aber entweder waren die zu schnell für uns, oder die Situation war dermaßen beschissen, daß man das ganze vergessen konnte. Da man abends niemanden wiedertraf (vielleicht gingen wir ja auch zu spät raus, ich weiß es nicht), hatten wir noch niemanden (!!!) kennengelernt. Ganz schön traurig für so ´nen Skiurlaub. Wir pendelten nachts immer zwischen einem Hotel und einem Club hin und her, im Hotel lief jeden Abend was anderes, mal Disco, Cinema, oder Varieté. Der Club war so ´ne Art Disco, die für ´nen Urlaubsort sogar ganz gut aufgemacht war (höhlenmäßig), und in der vor allem auch ganz anständige Musik lief. Es gab dann noch eine Piano Bar, aber die erwähne ich auch nur, weil sie eben so da war. Drin waren wir nämlich nie. An diesem Abend schlenderten wir wieder durch den Ort und rüber zum Hotel. Bei der Kälte war der Weg irgendwie doch ganz schön lang. Wir machten uns nichts vor, der Abend würde wieder genauso enden, wie die vorherigen. Wir würden nach Hause kommen in unser Appartement, unser Mitbewohner, Vormo, ein absolut dufter Typ, würde schon schlafen, da er’s meist nicht ganz so lang aushielt wie wir, und wir würden wieder vor Hunger umkommen und uns eines unserer „Mitternachts-Süppchen“ kochen. Mitternacht war zwar schon Stunden vorbei, aber wir nannten es trotzdem immer so.

Wir stapften durch den Schnee, für dieses Wetter viel zu dünn angezogen, aber wir hatten ja schließlich auch nicht vor, die ganze Nacht draußen zu verbringen. Als wir an dem riesigen Hotel ankamen, überlegten wir wieder kurz, was wir wohl sagen sollten, falls uns jemand anmachen wollte, daß wir doch gar nicht hier wohnten. Da aber weit und breit niemand zu sehen war, hielten wir uns auch nicht länger damit auf. So gut hätte ich sowieso nicht Französisch gesprochen, um gegen irgendeinen aufgebrachten Franzosen anzukommen. Pedro konnte in so einem Fall vielleicht noch auf Griechisch oder Latein kontern, aber Franze war nicht so sehr sein Gebiet.

Wir schlichen uns systematisch an den Veranstaltungsraum heran. Man hörte zwar irgendeine Art von Musik, aber wir hätten nicht sagen können, was heute abend dort los war.  

Als ich gerade die Klinke drücken wollte, ging die Tür auf, und es kam ein völlig verschwitztes Mädchen heraus gestürmt. Im selben Augenblick hörten wir von drinnen ein Gedröhne, das wohl Madonna darstellte.

Na ja, war zwar nicht 100% unser Geschmack, aber immerhin war hier gut was los. Die provisorische Disco war gut gefüllt, und Pedro und ich guckten uns an, und unsere Hoffnung keimte neu auf.

Leider war die Musik wirklich überhaupt nicht unser Fall, aber was soll man machen; ich hab noch nie etwas erlebt, das vollkommen war.

Wir setzten uns erst mal auf die Bühne, um die Lage zu peilen.

Nach einiger Zeit fiel mir ein Mädchen auf, das links von uns hinter einem Pfeiler saß. Das einzige, was Pedro darauf sagte, war: „na die is ja wohl ´n bisschen pummelig, oder!?“ Er hatte schon etwas anderes entdeckt…

Ich fand sie überhaupt nicht pummelig, aber Pedro hatte auch ungefähr so gute Augen, wie ein Maulwurf, der auf einer Bühne steht und dem Publikum die Augenfarbe des Beleuchters sagen soll.

Für mich war sie noch nicht gestorben, aber ungewollt sollte Pedro sogar gar nicht mal so unrecht haben. Pedros andere Entdeckung tanzte nicht weit von uns mit einer Freundin. Ich weiß nicht, ob das schon immer so war, aber seit diesem Urlaub lässt er nur noch Dunkelhaarige zu. Die Kleine war dunkelhaarig, und sie war wirklich süß, obwohl mir ihre Freundin auf den ersten Blick besser gefiel. Das sollte sich später noch als verheerender Fehler herausstellen. Im Moment aber passte das alles ganz gut, und als der DJ dann auch noch in einer schwachen Minute „Boys Don´t Cry“ spielte, da tanzten wir natürlich auch.

Pedro hatte jemanden entdeckt, und mir gefiel ihre Freundin auch ganz gut, was wollten wir mehr. Leider hatte ich mein Mädchen hinter dem Pfeiler in diesem Moment abgehakt; hätte ich lieber nicht machen sollen.

Ich glaube, es dauerte ungefähr eine Stunde, da saßen wir bei uns im „Wohnzimmer“ und versuchten, uns mit Händen und Füßen mit zwei wirklich süßen Französinnen zu unterhalten. War wirklich lustig; ich denke, mein bester Freund hat später in seinem Leben kaum noch mal soviel wie an diesem Abend geraucht. Da die beiden auch rauchten, konnten wir uns nachher kaum noch sehen. Echt! Kein Scheiß. Dicke Schwaden zogen durch den Raum, insgeheim suchte ich die Nebelmaschine, aber außer zwei Mädchen, die sichtlich ihren Spaß hatten, und einem Pedro, der im siebten Himmel zu schweben schien, konnte ich sonst nichts sehen, was diese Schwaden hätte verursachen können. Vormo war aus seinem Zimmer angedackelt gekommen, saß nun am Tisch und rollte sich nur noch ab. Er verstand zwar auch kaum ein Wort, aber seinen Spaß hatte er trotzdem. Warum wir an diesem Abend nicht mehr gebacken kriegten, als ihre Adressen zu bekommen und uns für den nächsten Tag zu verabreden, bleibt mir bis heute ein Rätsel. Wir brachten sie auf jeden Fall noch wieder zu ihrem Hotel zurück, und ich glaube, als wir gingen, war es ungefähr sechs Uhr morgens.

Vormo pennte schon, und wir krochen auch in die Heia. Den Skiunterricht am nächsten Morgen haben wir nicht erlebt.

Im Laufe der Woche lernten wir außer dem großen Bruder der dunkelhaarigen Magalie auch noch ihren kleinen Bruder kennen und ihre große Schwester…!

Mich traf fast der Schlag, als wir einander vorgestellt wurden: Sie war die Unbekannte hinter der Säule von dem Discoabend im Hotel! Ich konnte es kaum fassen. Auch Pedro bereute etwas seine vorschnelle Äußerung über ihr Aussehen. Christine sah phantastisch aus!

Ich kann es kaum beschreiben; niemals zuvor und auch nicht später habe ich so ein Mädchen getroffen. Sie war ein Jahr älter als wir, und ich war so von ihr beeindruckt, daß ich nicht einmal den Versuch gemacht habe, an sie heranzukommen. Ich hätte die Gelegenheit schon gehabt, aber ich war einfach nur hingerissen und nicht imstande, klar zu denken, wenn sie in meiner Nähe war. Sie verschlug mir die Sprache, wie wenn man vor einer göttlich schönen Ikone steht, staunt und schweigt.

Ich brauchte sie nur anzugucken, und mir liefen reihenweise kalte Schauer über den Rücken. Schöne Schauer…

So etwas hatte ich noch nie gesehen oder erlebt. Ich hatte den Eindruck, daß die Welt den Atem anhielt, wenn sie in der Nähe war – daß sie ihr huldigte. Es war unbeschreiblich. Sie verschlug mir tatsächlich die Sprache. Sie war mein wahr gewordener Traum! Sie war derart schön, daß ich dafür keine Worte finde.

Dass sie schwanger war und im dritten Monat, erfuhren wir erst ziemlich spät. Ihr „Freund“ war nirgends zu sehen. Ich wagte nicht, weiter nachzufragen, sie war mir heilig…

Mit Magalie und Celina, ihrer Freundin, gab es noch einige unschöne Szenen, als unverhofft irgendwelche Idioten aus Paris auftauchten, die die beiden auch noch kannten. Pedro kackte ganz schön ab. Mich nahm das ganze zwar auch ziemlich mit, aber zu der Zeit wirkte schon ein ganz anderes Gegengift. Das einer großen Schwester einer kleinen Französin, die sich Magalie nannte und Pedro gerade Dolchstöße versetzte:

Christine war ungefähr so groß wie ich, hatte dunkelbraune, etwas über schulterlange, naturgelockte Haare, die sie zu den unglaublichsten Frisuren zusammen stecken konnte und unbeschreibliche braune Augen… den Rest würde mir sowieso keiner glauben.

Komisch, wenn man heute jemanden fragen würde, auf welchen Typ Mädchen ich stehe –es würde bestimmt blond mit blauen Augen herauskommen. Dabei hat das Mädchen meines Lebens braune Augen.

Ich hätte auf der Stelle sterben können, wenn sie mich aus ihren braunen Augen heraus so anguckte. Der Kellner im Club anscheinend auch, denn wenn Christine dabei war und sie ihn von unten her anschaute, bekamen wir alle Drinks umsonst, komisch.

Tja, aber die Vollkommenheit gibt es nun mal nicht, und so verging der Rest der Zeit wie im Flug, und schon nahte der Abend, an dem wir abfuhren. Pedro wollte ganz und gar nicht. Und es bedurfte einiger Überredungskunst, ihn soweit zu bekommen, in den verdammten Bus einzusteigen. Die Französinnen waren noch bis zum Bus mitgekommen, und ehrlich gesagt, ich hätte heulen können. Beim obligatorischen Abschiedskuss auf die Wangen konnte ich es mir dann schließlich nicht mehr verkneifen und küsste sie auf den Mund… Sie war zwar überrascht, aber wehrte sich nicht.

Als so ein Idiot aus unserer Gruppe dann auch noch meinte, „die lachen euch doch nur aus, die kleinen Nutten“, da bekam er so einen Arschtritt von mir, daß er die nächsten zwei Stunden nicht mehr ruhig auf seinem verdammten Arsch sitzen konnte.

Ich glaub, mir fiel selten nochmals ein Abschied so schwer.

Aber da wir von Magalie ja die Adressen bekommen hatten und sogar ein paar Fotos zustande gebracht hatten, war ich letztendlich doch zuversichtlich. Paris war auch nicht so weit weg, und da wir schon Anfang April hatten, standen auch die Sommerferien schon fast wieder vor der Tür.

Als der Film entwickelt war, traf uns fast der Schlag. Bis auf ein Foto von Christine, auf dem man sie aber kaum wiedererkannte, da es ihr an diesem Tag wirklich mies ging, war keins der Fotos, die wir von unseren Französinnen gemacht hatten, etwas geworden.

Jetzt frag mich bloß keiner warum. Ich hätte kotzen können. Ich weiß es ja selbst nicht. Vielleicht musste das so sein, sonst hätten wir ja nicht richtig leiden können…

 

(© Mac McLaw – aus: »Dreamhunter« – Ur-Fassung, 1. Auflage)